Die Schachnovelle im WildWuchs Theater

04. Oktober 2014 -

Mit einer Mischung aus Analyse, Parodie, Gesellschaftskritik und der tatsächlichen Handlung aus Stefan Zweigs Schachnovelle kann das WildWuchs Theater überzeugen.

„Die Schachnovelle" von Stefan Zweig kennt vielleicht der eine oder andere noch aus Schulzeiten. Man könnte meinen, diese Novelle sei schwer auf die Bühne zu bringen, da sich ein Großteil eben - wie der Name schon sagt - ums Schach spielen dreht und auch um den innerlich wachsenden Wahnsinn der Hauptfigur.

Doch was sich das WildWuchs Theater unter Regie und Dramaturgie von Frederic Heisig ausgedacht hat, funktioniert auf der Bühne sehr gut: Man beginnt mit einer Anrede ans Publikum, dass die Aufführung der Schachnovelle heute leider ausfallen müsse und stattdessen eine Diskussionsrunde über „Faschismus heute" stattfände.
Drei „Experten" (dargestellt durch die Schauspieler Daniel Reichelt, Sebastian Stahl und die Schauspielerin Lea Avend) befinden sich auf der Bühne, wollen öffentlich bekannte Gäste begrüßen und reden pseudo-intellektuell sowie ironisch über die Themen der Schachnovelle, vor allem den Faschismus. Zur Veranschaulichung soll eine kurze Szene angespielt werden, was allerdings so weit ausufert, dass doch der gesamte Inhalt präsentiert wird.

Ein Depp mit Inselbegabung

Mirko Czentovic kommt aus einer einfachen, ärmlichen Familie und scheint weder klug noch gesprächig zu sein. Die Schauspieler auf der Bühne beschreiben ihn dem Publikum als „Depp mit Inselbegabung", was bereits für erste Lacher sorgt. Die Stimmung wird weiter gesteigert, als sie die Figur des Czentovic mithilfe eines gefüllten Jutesacks darstellen und ihn auf einen Stuhl in der Mitte der Bühne setzen. Interessanterweise passt dieses Bild sehr gut, da Czentovic auch in Stefan Zweigs Novelle als maulfauler, tumber, teilnahmsloser Junge beschrieben wird, dessen Verhalten einem leblosen Jutesack recht nahe kommt.

Czentovic entdeckt schließlich doch seine Begabung: die fürs Schach spielen. Er schlägt alle Spieler aus den Nachbardörfern, gewinnt regionale und nationale Wettbewerbe und wird schon als Zwanzigjähriger Schachweltmeister. An diesem Punkt bricht auf der Bühne eine Art Nationalstolz aus, die Musik wird dramatisch, die Darsteller setzen pathetische Gesichter auf und feiern Czentovic (alias Jutesack) wie einen Box-Weltmeister, absurd und dennoch treffend.

Titanic und „Fuck you!"

Die Handlung geht auf dem Schiff weiter, auf dem Czentovic (und in der Vorlage von Stefan Zweig auch der Erzähler) nach Buenos Aires reist. Das Ablegen des Schiffes vom Hafen wird wiederum witzig dargestellt: Mit Titanic-Musik untermalt ahmen die zwei männlichen Darsteller die berühmte „Jack, ich fliege"-Pose am Bug des Schiffes nach und es herrscht große Aufregung auf der Bühne.
Wieder zurück in den Rollen der Diskussionsrunde überlegen die drei Schauspieler, wie man Czentovic aus seiner Kabine locken könnte, weil er ein sehr zurückgezogener und inzwischen auch arroganter Mensch ist, da er von seinem großen Schachtalent weiß.
Die vereinbarte Idee ist schließlich, ihn mit einem Schachspiel zu ködern. An dieser Stelle wird die Figur des wohlhabenden, hochnäsigen Amerikaners McConnor eingeführt (sich selbst in einem drolligen amerikanischen Akzent als „Alphatier" beschreibend), der sich auch nicht davor scheut, Czentovic 1.000 $ für ein Spiel zu zahlen. Doch McConnor ist kein guter Verlierer und beschimpft gerne mal seine Gegner als auch die Zuschauer mit „Fuck you!", was wieder einen auflockernden, amüsanten Ton ins Bühnengeschehen bringt.

Als es bei einer erneuten Partie zwischen Czentovic und McConnor nicht gut für Letzteren aussieht, kommt eine weitere neue Figur hinzu: Dr. B., der auch in Zweigs Schachnovelle für einen Großteil der Handlung die Rolle des Protagonisten einnimmt.
Dr. B. gibt hilfreiche Tipps für das Schachspiel und so wird gegen Czentovic, den bisher ungeschlagenen Weltmeister, ein Remis (Unentschieden) erreicht. Dr. B. will jedoch trotz Drängens der begeisterten Anwesenden keine weitere Partie spielen. Bereits jetzt bemerkt der aufmerksame Zuschauer hinter der schüchternen Unsicherheit dieser Figur einen psychischen Knacks, der nach einer 15-minütigen Pause für das WildWuchs-Publikum weiter ausgeführt wird.

Die Geschichte des Dr. B.

Die ausführlichere Lebens- und Leidensgeschichte von Dr. B. kann jeder selbst in der Schachnovelle nachlesen, nur so viel: Er wurde von der Gestapo festgenommen und verhört, allerdings in keinem KZ oder Lager festgehalten, sondern in einem Hotelzimmer (mit nur Tisch, Stuhl, Bett und Waschschüssel als Einrichtung).
Was im Vergleich zu KZ-Barracken als recht komfortable Unterbringung anmutet, entpuppt sich als ganz andere, grausame Art der Folter: Tag und Nacht ist Dr. B. von der Außenwelt abgeschottet, ganz allein mit sich und seinen Gedanken, jeder Möglichkeit zur Beschäftigung beraubt. Dass man dabei langsam wahnsinnig wird, ist verständlich.

Schließlich kann er sich aus dem Mantel eines Wächters ein Buch stehlen und freut sich schon auf die willkommene Ablenkung. Doch es stellt sich als ein Buch heraus, das die Züge der besten Schachspiele nachzeichnet.
Anfangs verzweifelt über so ein Unglück und der Meinung, nichts mit dieser Lektüre anfangen zu können, beginnt Dr. B. dennoch für sich allein auf seiner gemusterten Bettdecke Schach zu spielen und kann irgendwann die gesamten Partien aus dem Buch sogar im Kopf nachspielen. An dieser Stelle sei das schauspielerische Können von Daniel Reichelt gelobt, der als Dr. B. ganz vorne am Bühnenrand mit zerzausten Haaren sitzt und während seines Berichts zittert, seine Augen unruhig hin und her wandern lässt und von trostlos über hoffnungsvoll bis verängstigt unterschiedlichste Emotionen überzeugend darstellt. Man bemerkt den wachsenden Wahnsinn der Figur im Verlauf seiner Geschichte.

„Ich bin eine Schachfigur!"

Gesteigert wird das Ganze dann durch den absoluten Höhepunkt des psychischen Durchdrehens von Dr. B., wenn er sich die eine Gesichtshälfte mit schwarzer, die andere mit weißer Farbe anmalt. Die verstörende Stimmung wird durch psychedelisches Licht, Metal-Musik und durch jetzt zu erkennende Symbole auf der weißen Wand gesteigert. Im Hintergrund kämpfen eine schwarze und eine weiße Schachfigur, während Dr. B. nur noch Feldbezeichnungen und Schachanweisungen von sich gibt.

Er nimmt nichts mehr um sich herum wahr, ist eins geworden mit dem Schach, wird von schwarz und weiß hin- und hergerissen. An dieser Stelle gibt es wieder einen abrupten Wechsel zurück zur Diskussionsrunde, der Darsteller will seine Bemalung erklären: „Ich bin eine Schachfigur! Schwarz und Weiß." Doch er wird von dem anderen Experten zurechtgewiesen, dass es doch nicht geht, sich schwarz anzumalen, vor allem nicht in einer Diskussionsrunde zum Thema „Rassismus heute".

Auch weitere Gäste, die geladen sind, können entweder nicht kommen (so beispielsweise Thilo Sarrazin) oder werden aufgrund von unpassenden, pseudo-rassistischen Kommentaren des Raumes verwiesen (z.B. Eva Hermann und Tom Cruise in seiner Rolle als Stauffenberg im Film Operation Walküre).
Am Nichtzustandekommen der Expertendiskussion kann man wohl eine Kritik erkennen an Debatten über Rassismus bzw. die Verhinderung der Debatten durch zu große Vorsicht und Angst, bestimmte Dinge anzusprechen.

Zurück in der Handlung wird Dr. B. wegen akuter Nervenleiden aus der Haft entlassen und tritt auf dem Schiff doch noch im Schach gegen Mirko Czentovic an, auch wenn vorauszusehen ist, dass dies nicht gut für ihn und seine geistige Gesundheit ausgehen kann. Dargestellt wird die Schachpartie nur mithilfe einer einzigen, riesigen schwarzen Schachfigur, die die beiden anderen Darsteller hin und her tragen: langsam und gemütlich, wenn Czentovic an der Reihe ist, sehr schnell, wenn Dr. B. ungeduldig seinen nächsten Zug ansagt.
Wie die Partie ausgeht, wie Dr. B. mit dem Schachspielen zurechtkommt und wie der Bogen zurück zum Diskussionsabend gespannt wird, kann der Leser bei einem eigenen Besuch im WildWuchs Theater erfahren.

Das Leben ist Theater. Die Welt ist Theater.

Das WildWuchs Theater existiert seit 2009 in Bamberg. Es definiert sich dadurch, dass sich Künstler selbst kreativ einbringen können und der experimentierfreudige Charakter des Theaters aufrecht erhalten wird. Das Motto: Theater machen für ein breites Publikum ohne künstlerische Überheblichkeit. Wie Schauspielerin Lea Avend zu Beginn des Stücks in einem Monolog erläutert: „Das Leben ist Theater. Die Welt ist Theater. Theater ist ein Ort der Gesellschaft, der Zusammenkunft, ein Ort der Reflektion. Theater ist nicht tot. Eine Welt ohne Theater gibt es nicht!" Und so haben sich auch an einem Mittwochabend trotz brütender Hitze (sowohl draußen, als auch drinnen) viele Theaterbegeisterte oder zumindest Neugierige eingefunden.

Der Aufführungsort der Schachnovelle befindet sich in einem kleinen Raum im Palais Schrottenberg. Es gibt eine kleine Bühne und circa 70 Sitzplätze. Diese sind trotz sommerlichen Wetters bis auf den letzten Platz ausverkauft, worüber sich auch die Theaterleute des WildWuchs Theaters freuen. Das Publikum ist durchmischt, einen Großteil stellen jüngere Leute, wahrscheinlich Studenten.

Man kommt ohne viel Bühnenbild aus, nur ein Tisch, drei Stühle und eine weiße, drehbare, dreiseitige Wandkonstruktion werden immer wieder verschoben und genutzt.
Auch die Kostüme und Requisiten sind einfach gehalten, aber aussagekräftig: Schwarz und weiß dominieren, NS-Offiziere haben schwere Mäntel an, Pfarrer und Wachtmeister werden durch Kollar bzw. Pelzmütze gekennzeichnet, McConnor trägt einen weißen Schal, Doktor B. zuerst ein weißes Jackett, später nur das schwarze Hemd.
Kostüme dienen hier schließlich vor allem dazu, die Figuren unterscheiden zu können, da sie ja nur von drei Schauspielern verkörpert werden.
Auch die einzige Dame im Schauspieler-Trio kann mit ihrer Leistung überzeugen, ihre dargestellte Mischung aus Erotik, Arroganz, Tiefsinnigkeit und Härte macht das Ganze zu einem sehenswerten Schauspiel.

Nach zwei Stunden im gefühlt 40°C warmen Theaterraum entlässt das Publikum unter viel Applaus die Schauspieler in den Feierabend.
Fazit zur Schachnovelle: Sehenswert und zu empfehlen!

Weitere Aufführungstermine sind: 10. und 21. Oktober

Zum Spielplan des WildWuchs Theaters geht's hier.

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